Montag, 27. Februar 2012

Projekt FUTURE-ICT

PROJEKT „FUTURICT“
Die Kristallkugel der Wissenschaft

Forscher aus ganz Europa arbeiten an einer riesigen Weltsimulation, mit der sie soziale und ökonomische Krisen vorhersagen wollen. Doch wann genau ein Regime am Ende ist, lässt sich kaum abschätzen.

Früher konnten nur Geheimdienste so viele Daten sammeln - einfacher wurde es mit Internet und Mobilfunk. (Bild: graphicsdeluxe - Fotolia)
Mark Zuckerberg, Gründer und Vorstandsvorsitzender des Online-Netzwerks Facebook, hat kürzlich seine Vision vorgestellt: Facebook soll das Leben seiner Nutzer automatisch aufzeichnen – ihre Karriere, ihren Musikgeschmack, ihre Einkäufe und Beziehungen. Die Aufregung über soviel Datenspeicherung ist groß. Doch renommierte Wissenschaftler aus ganz Europa gehen sogar noch einen großen Schritt weiter: Sie wollen anhand unserer Internet- und Mobilfunknutzung eine Weltsimulation entwickeln, den „Living Earth Simulator“.
Der Soziologe Dirk Helbing von der ETH Zürich plant gemeinsam mit Kollegen von über 60 europäischen Forschungseinrichtungen öffentlich zur Verfügung stehende Daten zu sammeln, zu bündeln und auszuwerten. Die Wissenschaftler wollen ein Modell entwickeln, das das sozioökonomische Leben auf der Erde möglichst exakt abbildet – und Vorhersagen erlaubt.

So aufwendig wie man am Kernforschungszentrum Cern in Genf mit einem Teilchenbeschleuniger nach dem Ursprung des Universums sucht, soll die Weltsimulation die verborgenen Muster unseres gegenwärtigen Lebens vollständig aufdecken. Die Grundidee einer solchen riesigen Datenauswertungsmaschine hat der Science-Fiction-Autor Isaac Asimov bereits in den 50er Jahren in seinem Romanzyklus „Foundation“ entwickelt. Er nannte das Ganze Psychohistorik: eine Art wissenschaftliche Wahrsagerei.

Der Held in Asimovs „Foundation“ ist ein Mathematiker namens Hari Seldon, der die Psychohistorik als neue Wissenschaft ausarbeitet. Seldon geht davon aus, dass mit empirisch-statistischen Methoden Gesetzmäßigkeiten im Verhalten der Menschheit berechnet werden können. Da bestimmte Muster sich im Verlauf der Zeit nicht ändern, glaubt Hari Seldon, die Zukunft „errechnen“ zu können. Schon der amerikanische Statistiker Michael Flynn versuchte 1988 in seiner „Einführung in die Psychohistorik“ Asimovs Ideen auf eine wissenschaftliche Basis zu stellen. Er wollte nachweisen, dass die Zukunft mit Hilfe statistischer Analysen vorhersagbar sei, würden nur ausreichend Daten zur Verfügung stehen. Asimov erklärt in seinem Roman nicht, wie sein Held Seldon an die gigantischen Datenmengen kommt.
Heutzutage sammeln sich die Daten praktisch von selbst. Eine schnell wachsende Zahl von Menschen stellt sie freiwillig zur Verfügung – neben der Kommunikation in sozialen Netzwerken laufen auch Online-Einkäufe, Webseitenbesuche, E-Mails, Forenbeiträge, Blogkommentare und Chats über zahlreiche Server und könnten zumindest theoretisch ausgewertet werden. Informatiker sprechen von Data-Mining. Darunter versteht man die systematische Suche nach Mustern in Datensätzen. Für Datenschützer ein Graus, für Wissenschaftler eine große Chance.

Alarmglocke schrillt vor der nächsten Krise

Der Soziologe Helbing ist überzeugt, dass die Zeit reif ist für ein übergreifendes Makromodell – ein Modell, das ökonomische, soziale und politische Modelle vereint und selbst Klima- und Umweltveränderungen einbezieht, mit Daten von überall her gefüttert. „Wir haben viel zu stark in spezialisierten Segmenten gearbeitet und dabei die Chance verpasst, ein systemübergreifendes Alarmsystem für Krisen einzuführen“, sagt er. Der hohe Preis für diese Ignoranz sei beispielsweise die jüngste Finanzkrise gewesen, vor der uns der „Living Earth Simulator“, seinerzeit hätte warnen können.

„Bis heute gibt es keine Modelle dafür, wie ökonomische Krisen eigentlich funktionieren – wo doch ausreichend Daten dafür vorhanden wären“, sagt der Sozialwissenschaftler. Im Idealfall lässt der Weltsimulator künftig eine Alarmglocke läuten, wenn sich irgendwo auf der Erde eine Krise welcher Art auch immer ankündigt.

In einem Werbevideo für das Simulator-Projekt sieht man eine schwebende animierte Erdkugel. Aus allen Richtungen fliegen dem Zuschauer vorm Bildschirm Stichwörter entgegen: Hier droht Krieg, dort Hunger, dort ein Finanzkollaps.

Eine Milliarde Euro wird benötigt

Dirk Helbing spricht gerne von einem Wissensbeschleuniger, analog zum Teilchenbeschleuniger in Genf. Die Forscher wollen genau genommen herausfinden, wie sich alle Einzelsysteme auf der Erde gegenseitig beeinflussen. Welche Folgen haben Klimaveränderungen auf politische und soziale Systeme? Es ist die Suche nach den Gesetzen und Prozessen, die unser Zusammenleben auf der Erde bestimmen. Ein ehrgeiziges Ziel: Dafür müssen in Echtzeit mit Supercomputern gigantische Datenmengen aus Internet, Mobilfunkapplikationen und wissenschaftlichen Statistiken gesammelt und ausgewertet werden. Interessierte können auf einer Partizipationsplattform freiwillig mitwirken – wie das konkret aussieht, ist aber offen.



Weil das Projekt viel Geld kostet, haben sich die Forscher des „Living Earth Simulators“ in einem EU-Wettbewerb um eine Milliarde Euro Fördergeld beworben, ausgezahlt über einen Zeitraum von zehn Jahren. „FuturICT“ haben sie ihr Projekt in der Bewerbung genannt, frei übersetzt: Informations- und Kommunikationstechnologie der Zukunft.

Der „Living Earth Simulator“ soll der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt werden. Der Zürcher Soziologe Helbing möchte im Gegensatz zu Facebook alles transparent gestalten. Die fertige Simulation könnte so politische Entscheidungen schon vor ihrer Umsetzung überprüfen. Denn das System zeigt alle Konsequenzen einer Entscheidung. „So lässt sich zum Beispiel verhindern, dass ein wirtschaftlich angeblich notwendiger Beschluss gleichzeitig Sozialmodelle aushöhlt“, sagt er.

Tendenzen aber keine konkreten Vorhersagen

Völlig neu ist die Idee des Data- Mining zu solchen Zwecken nicht. Insbesondere Geheimdienste sind schon an vergleichbaren Auswertungen interessiert. Die Forschungsabteilung der amerikanischen Geheimdienste plant anhand von Daten aus dem Netz weltweit Krisen im Frühstadium auszumachen. Sie testet Analysemethoden, die wie ein Radar rund um die Uhr nach Veränderungen im Verhalten der Weltbevölkerung Ausschau halten – nach Hinweisen auf politische Unruhen, Flüchtlingskatastrophen, Krankheitsausbrüche. Leistungsstarke Rechner erstellen Statistiken über die Häufigkeit bestimmter Begriffe in Blogs oder analysieren die Bewegungsströme von Passanten auf öffentlichen Plätzen – das neue System soll auch Webcams einbeziehen.

Doch wie hilfreich sind solche Frühwarnsysteme? Der Statistiker Michael Flynn weist darauf hin, dass Data-Mining Grenzen hat: „Abgesehen davon, dass man dabei die unzähligen Falschinformationen im Internet erst einmal herausfiltern muss, zeigen die Daten eher ein momentanes Stimmungsbild. Aus dem können Analysten zwar Tendenzen ableiten, aber sie können nicht unbedingt konkrete Vorhersagen machen.“

Eine Regime-Krise etwa müsse man sich wie ein Gummiband vorstellen, an dem ein Gewicht hängt. Es existiert eine Beziehung zwischen der Dehnung des Bandes und dem Gewicht: Wenn eine bestimmte Grenze überschritten ist, reißt das Band. Mit anderen Worten: „Der Zeitpunkt eines Umsturzes , oder ob er überhaupt stattfindet, entzieht sich jeglicher Mathematik“, so Flynn. Wann er stattfindet, hängt auch von handelnden Menschen ab. Und die sind im wahren Wortsinne häufig unberechenbar.

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